Buchstäbliches – D

Drei Ecken hatte unser D in seinen Kindertagen. Die Richtungen, in die Winkel wiesen, legten die Völker, die den Buchstaben mit dem semitischen Namen Daleth benutzten, offenbar nach Gutdünken fest. Bei den Phöniziern im 12. vorchristlichen Jahrhundert deutete eine seiner Spitzen zunächst nach unten. Später kippte das Zeichen dann als gleichseitiges Dreieck auf seine waagerechte Basis, im 4. Jahrhundert vor Christus hatte sich der rechte Diagonalstrich über die Basis hinaus verlängert, und wiederum 200 Jahre später hatte sich aus dem verbleibenden Fähnchen auf der linken Seite eine Rundung entwickelt. Im Unterschied zu vielen anderen Buchstaben hilft der semitische Name Daleth bei der Herleitung der Zeichengestalt kaum weiter: Das Wort bedeutet Torflügel.

kretisch

nordsemitisch

frühgriechisch

klassisch griechisch

lateinisch

Unziale/Halbunzial

angelsächsisch

Die Griechen übernahmen das Zeichen mit dem Lautwert d, machten daraus gegen 800 vor Christus wieder das gleichseitige, auf die Basis gesetzte Dreieck und gaben dem Buchstaben den Namen Delta.
Aus der folgenden Zeit finden sich zwar immer wieder Inschriften, in denen das D bereits in der uns heute vertrauten Form auftaucht, das heißt mit einem senkrechten Stamm auf der linken Seite und rechts daran anschließend einen ungefähren Halbkreis. Als sich jedoch schließlich um 400 vor Christus die klassische Form des griechischen Alphabets herausbildete, war man wieder zu dem pyramidenförmigen Zeichen zurückgekehrt.
Die griechischen Kolonisten, die ihr Alphabet auf die italienische Halbinsel mitbrachten, verwendeten manchmal dieses Dreieck und manchmal die gerundete Form. Die Gestalt des D, ebenso wie der vieler anderer Buchstaben, lag wegen der noch nicht festgelegten Schreibrichtung in zwei spiegelbildlichen Varianten vor. Die frühesten lateinischen Beispiele aus dem 6. Jahrhundert vor Christus setzten den Bogen links an, wobei er teils geschlossen wurde, teils oben oder unten geöffnet blieb. Zwei Jahrhunderte später hatte man die Schreibrichtung normiert, jetzt befand sich der Stamm wieder links; abermals 200 Jahre weiter schloss sich der Bogen endgültig. Im Lauf dieser Entwicklung formte sich die flache Rundung zu einem voll ausgebildeten Halbkreis.
In handschriftlichen Varianten des Lateinischen, zum Beispiel in der Rustica, wölbte sich der aus einer Serife entwickelte obere Bogen zunehmend über den senkrechten Stamm hinaus und bekam dadurch – vor allem bei schnellem Schreiben – wachsende formale Bedeutung. Diese Rundung des Buchstabens prägte sich immer mehr aus, erfasste schließlich auch den senkrechten Stamm und führte so in der Spätantike zu der typischen Form der Unziale, welche die Figur des kleinen d vorweg nimmt und sich bis heute andeutungsweise in kursiven Schnitten wiederfindet.
Bereits in spätrömischen Handschriften deutete sich eine neue Form an: Der nach links überhängende obere Bogen richtete sich zunehmend auf, so dass eine parallel verwendete Alternative entstand, deren Stamm auf der rechten Seite angebracht war und eine Oberlänge aufwies, während eine Rundung in Höhe der übrigen Buchstaben den linken Abschluss bildete.

karolingische Minuskel

gotische Buchschrift

rundgotisch

gotisch mit lombardischen Initial

Textur

Gutenbergsche Textur

Luthersche Fraktur

Alte Schwabacher

Garamond, Renaissance-Antiqua

Palantino, Renaissance-Antiqua

Times, Barock-Antiqua

Diese drei D-Formen prägten die Entwicklung des vierten Buchstabens viele Jahrhunderte hindurch bis in unsere Zeit. Während die beiden heute vertrauten Formen des kleinen und großen D stets typische Vertreter der jeweiligen Klein- und Großbuchstaben waren, ließ sich die runde Variante mit nach links überhängender Verlängerung sowohl für Minuskeln als auch für Versalien verwenden. In der Folgezeit der karolingischen Minuskel bevorzugte man wieder das streng aufgerichtete d, während der weiteren Entwicklung zur gotischen Buchschrift kam für die Kleinbuchstaben erneut die Rundform in Mode.
Der linke Überhang blieb – nun als Gerade – selbst dann noch erhalten, als sich die strengeren Textur- und Frakturvarianten herausbildeten. Mit der Rotunda rollte sich das d abermals schneckenförmig zusammen; bei den zahlreichen Batardaformen, die viele Aspekte heutiger Handschriften vorweg nehmen, gleicht es schließlich einer nach links kippenden Acht.
Obwohl das Versal-D während des Mittelalters alle stilistischen Veränderungen mitvollzogen hatte, war es sich in seinen Grundzügen treu geblieben: links ein mehr oder weniger senkrechter Stamm, rechts ein halbrunder Bogen, mitunter durch zusätzliche Linienbrechungen verworfen. Das klassische D der römischen Monumentalschrift, das man lande Zeit als Zierinitial oder für Satzanfänge verwendete, wurde im späten Mittelalter durch die runde, geschlossene gotische oder lombardische Initiale abgelöst. Die humanistische Antiqua übernahm die lateinische Form für den Großbuchstaben sowie die strenge und mit deutlicher Oberhöhe angepasste Form des kleinen d aus der karolingischen Minuskel.
Die nach links überhängende Rundform wird auch heute noch benutzt: in Schriften, die sich von der Unziale herleiten, sowie als Grundform des d in gebrochenen Schriften.

Bodoni, klassizistische Antiqua

Helvetica, serifen- lose Antiqua

Fette Fraktur, gebrochene Schrift

Arnold Böcklin, Antiqua- Variante