Buchstäbliches – P
Problemlos erkennt man in der frühen kretischen Schrift das Zeichen für den Begriff Mund – wir erreichen offensichtlich den Bereich des Alphabets, dessen Buchstaben Bezeichnungen nach der menschlichen Physiognomie erhielten: O kommt von „ajin“ (Auge), Qoph (Q) wie auch Resch(R) bezeichneten den Kopf und Schin (S) den Zahn.
In den semitischen Schriften war von dem geschlossenen Doppelbogen, der bereits in den ägyptischen Hieroglyphen für das Lippenpaar – allerdings mit dem Lautwert R – stand, nur noch die Hälfte übrig geblieben, die auch noch senkrecht ausgerichtet war. Im folgenden Jahrtausend, in dem sich die phönizische Schrift entwickelte, blieb dieses Zeichen weitgehend unverändert: eine halbierte, nach links offene, vertikal gestreckte Ellipse. Um 1000 vor Christus hatte sich die maßgebliche Form ausgebildet, die in ihrer oberen Hälfte eine stärkere Krümmung aufwies als in ihrer unteren.
Die Benennung des Buchstabens P veränderte sich in 3000 Jahren kaum, denn bereits das Semitische sprach das Zeichen als „Pe“ aus. Mit der Übernahme durch die archaischen Griechen im achten vorchristlichen Jahrhundert änderte sich zunächst, wie bei den meisten anderen Buchstaben, die Schreibrichtung von links nach rechts.
Der griechische Buchstabe Pi gehört zu den wenigen, dessen Bezeichnung dank des Mathematikunterrichts auch bei uns bekannt ist – sogar auf den höheren Ebenen von Computertastaturen fehlen ? und p nicht. Praktisch nützt diese Kenntnis jedoch wenig, denn P steht im Griechischen ebenso wie im Kyrillischen für das R. Dass damit der Kreis zu den ägyptischen Hieroglyphen geschlossen scheint, ist Zufall.
Um das sechste Jahrhundert vor Christus hatten die Griechen die rechte Vertikale des eckig geschriebenen Pi bis auf die Grundlinie herabgezogen; parallel dazu existierte lange Zeit eine Form, bei der dieser Strich nur bis zur Hälfte des Zeichens reichte. Diese Schreibweise kam über die griechischen Siedler in den Westen. Die Römer wechselten abermals die Schriftrichtung, so dass der teils eckige, teils gerundete Buchstabe wieder nach links schaute, ehe der obere Strich 200 Jahre später die uns vertraute Richtung einnahm.
In der Folgezeit krümmte er sich immer mehr, hatte sich im zweiten und ersten Jahrhundert vor Christus bis zum Viertelkreis gerundet, war aber selbst in der klassischen Capitalis Monumentalis noch immer nicht geschlossen. Das behielten Capitalis Rustica und Quadrata ebenso wie handschriftliche Kursivformen bei; viele wichtige Antiquaschriften, etwa Sabon, Palatino, Plantin oder Friz Quadrata, bewahrten diese Eigenheit bis heute.
Das untere Ende dieses Bogens reichte nicht selten bis fast an die Schriftlinie heran, so dass die Verwechslung mit dem D nahelag. Aus diesem Grund begannen die Unterlängen in den Buchschrift- und Ziervarianten der spätantiken Unziale zu wachsen. Der bogen schloss jetzt mit der Schriftlinie ab, der linksseitige Stamm ragte nach unten darüber hinaus.
Erst in der Spätzeit der Unziale, und besonders deutlich bei der Halbunziale, hatte sich schließlich der Bogen des P vollkommen geschlossen. Ein weiteres Merkmal dieser Epoche bildete die Übernahme der (bei den Inschriften in Stein sinnvollen) Serifen in die hand- beziehungsweise buchschriftlichen Varianten.
Die Herausbildung der Minuskeln aus den Versalien lässt sich beim P leicht als deren proportionale Verkleinerung nachvollziehen. Zudem weist der Buchstabe alle bekannten Zierelemente des hohen und späten Mittelalters auf: vertikale Verdopplung des geschwungenen Elements als Parallele zum Stamm, s-förmiger Doppelschwung des oberen Anstrichs sowie die Aufspaltung des Bogens in gebrochene Linienzüge der Feder, die den Frakturschriften ihren Namen gab.
Mit dem Rückgriff der Renaissanceschriften auf die antiken Formen war die formale Entwicklung des Buchstabens P weitgehend abgeschlossen und folgte in den weiteren Jahrhunderten den bekannten Stiltendenzen.